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Silvie Aigner

Passagen

Nur wer bereit zu Aufbruch ist und reise,
mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Hermann Hesse, Poesie des Aufbruchs

"Du glaubst, dass du eine Reise machen willst, und begreifst bald, dass sie, die Reise, diejenige ist, die dich macht oder aufmacht", schrieb der Schweizer Schriftsteller und Reisautor Nicolas Bouvier. Ist es das Bedürfnis nach Neuem oder eine gewisse Rastlosigkeit, eine innere Notwendigkeit, oder sind es schlichtweg äußere Umstände, die Olaf Osten immer wieder dazu anregen, aufzubrechen – an andere Orte zu ziehen? Allerdings ist die Reise stets mit einer sicheren Rückkehr verbunden, lebt und arbeitet der Künstler doch seit mehr als 15 Jahren in Wien. Die Frage, ob diese Rückkehr und der Wunsch nach dem gewohnten Alltag bereits als "Heimkommen" bezeichnet werden können, würde er wahrscheinlich dennoch verneinen. Der Aufbruch als Flucht vor dem ständig gleichen Umfeld oder, wie Hesse schreibt, vor der lähmenden Gewöhnung an den Alltag mag einer der Gründe sein, doch weit mehr ist es die Neugierde auf das Fremde und Unbekannte sowie der Sog des früheren Lebensmittelpunktes Norddeutschland.

Die Serie PENDELN basierte zunächst auf Olaf Ostens Reisen zwischen Hamburg und Wien und den Aufenthalten in den beiden Städten, die ihm gleichermaßen vertraut sind. Sie stellte den Versuch dar, das Neben- und Miteinander der beiden Städte im Bewusstsein des Künstlers zu verbinden. Olaf Osten ist aus dieser geografischen Limitation jedoch ausgebrochen, längst umfasst die Serie weitere Landschaften und Städte wie Brünn, New York, Barcelona, Lübeck, Rügen oder Bezau. Entstanden während der letzten fünf Jahre, ist Pendeln zugleich auch so etwas wie eine biografische Notiz. Der Blick aus dem Fenster im Zug, die vorbeiziehende Landschaft oder die Weite des Himmels aus dem Flugzeugfenster. Das Skizzenblatt des reisenden Künstlers ist ein ausgedienter Taschenkalender. Damit man erst gar nicht auf die Idee kommt, die jeweiligen Daten mit seinen Reisezielen oder Stadtansichten zu verbinden, dreht er ihn um. Das Datum und die Zeichnung haben keinen kausalen Zusammenhang, und doch entspinnt sich ein formaler Dialog zwischen den Linien, Flächen und der gedruckten Vorlage. Zuweilen ergibt sich auch eine zufällige Verschränkung mit den dazumal getätigten Termineintragungen des Künstlers. Die Präsentation der Original-Zeichnungen auf Taschenkalender erfolgt dann in Form von hochwertigen Prints auf Leinwand.

Die Zeichnungen halten Stimmungen fest, Eindrücke von einem Lande oder einem Ort, die touristischen Sehgewohnheiten verborgen bleiben, sobald diese sich an repräsentativen Sehenswürdigkeiten festmachen. Vieles davon bleibt jedoch auch dem Blick des Einheimischen fremd, da er im Vertrauten kaum mehr das Besondere sieht. "Vielleicht ist es so, dass sich der wahre Reisende immer im Auge des Sturmes befindet. Der Sturm ist die Welt, das Auge ist das, womit er die Welt betrachtet. Im Auge ist es still und wer sich darin befindet, kann gerade die Dinge unterscheiden, die den Sesshaften entgehen", zitiert Cees Nooteboom in seinem Buch Nootebooms Hotel den arabischen Philosophen Ibn al-Arabi. Olaf Osten interessiert weniger die repräsentative Fassade der Orte – wenngleich der Hafen von Hamburg oder das Wiener MuseumsQuartier durchaus als charakteristische Plätze gelten können – vielmehr sind es Details wie die Unteransicht einer Brücke über den Donaukanal, die Fassade eines Hamburger Hauses, ein typisches Wiener Stiegenhaus, das Serapionstheater in Wien, ein Frühstücksdeli in Manhattan, ein Ausblick aus dem Fenster in Brünn oder das Geschehen auf einer Baustelle am Wallensteinplatz. Olaf Ostens Stadtporträts sind enge Ausschnitte einer Stadt, deren kleine Details jedoch diese erst charakterisieren. Die Fülle und der Variantenreichtum der Serie sind eindrucksvoll. Sie ergibt in ihrer Gesamtheit einen Rhythmus persönlicher Jahresabläufe des Künstlers. Bis heute entstehen die Zeichnungen ungeplant, stimuliert durch den jeweiligen Eindruck. Sie nehmen die Spuren der Zeit und der persönlichen Aktivitäten des Künstlers auf. Palimpsestartig überlagern sich hier Schichten der künstlerischen und privaten Biografie Ostens, ohne anekdotisch zu sein. Die Beiläufigkeit und Zufälligkeit des ausgewählten Motivs unterstreicht der Künstler durch die skizzenhafte, manchmal schnell und bewusst krakelig gesetzte Linie. Das Überschneiden der Motive, wie u.a. im Bild der Lerchenfelderstraße, wo Straßenbahn, Passanten und die Häuserzeilen einander überlagern, verweist auf die Gleichzeitigkeit des Geschehens und auf die vielfältigen urbanen Bewegungen, die ins Bewusstsein der Wahrnehmung rücken – wenn auch oft nur für einen kurzen Augenblick.

Die Bilder erzählen von den urbanen Zwischenwelten, der zeichnerische Prozess wird zu einer individuellen Annäherung, die über das Gesehene hinausgeht, um die Atmosphäre des Ortes auszudrücken und seinen Schwingungen nachzuspüren. Teilweise sind die Bilder konkret, in anderen Zeichnungen skizziert er nur flüchtig das Geschehen, wie in der Darstellung der "Enzi-Sitzmöbel" im Wiener MuseumsQuartier. Szenen im Innenraum wechseln mit der Darstellung der Straßen. Doch selbst dort, wo nur wenige Striche den Ort andeuten, erkennt man die jeweilige Stadt. "Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie Menschen", schrieb Robert Musil in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Wie die Bewegung in den Straßen schwingt, charakterisiert, so Musil, eine Stadt bei Weitem früher als irgendeine bezeichnende Einzelheit. Die Arbeiten sind, ohne festgelegten formalen, kompositorischen oder logischen Zusammenhängen zu folgen, auch eine Kartografie der Zeit. Die Dauer des Zeitraums bleibt allerdings im Unbestimmten, was Vergleiche zu den Diarios des argentinischen Künstlers Guillermo Kuitca zulässt, der zu seiner Serie schrieb: "Es gibt keinen Begriff von Vollendung, keinerlei Erwartung eines Resultats."

"Wir müssen die Welt immer wieder neu entdecken, neu sehen und dabei lernen, neu aufzufassen."

Landkarten verdichten sich in der zweiten Serie des Künstlers zu poetischen und territorialen Vorstellungswelten, in denen sich Realität und Fiktion überlagern. Olaf Osten vermisst die Welt neu und generiert neue räumlichen Zusammenhänge und neue formale Spannungsfelder. An die Stelle des Taschenkalenders treten Seiten aus herkömmlichen Schulatlanten. Der Künstler thematisiert dabei das Paradoxon der Landvermessung, ganz im Sinne der Diskussion, die in Daniel Kehlmanns Roman Pater Zea mit Alexander von Humboldt führt. Der eine, der die Landschaft in ihrer unmittelbaren Wahrnehmbarkeit sieht, der andere, der sie vermisst, um mittels der Linien die Vielfältigkeit der Welt überhaupt erfassen zu können. "Linien gebe es überall, sagte Humboldt. Sie seien eine Abstraktion. Wo Raum an sich sei, seien Linien. Raum an sich sei anderswo, sagte Pater Zea. Raum sei überall! Überall sei eine Erfindung." Es ist eine rationale Ansicht der jeweiligen Landschaft, so auch Olaf Osten, "aber so sieht die Welt nicht aus, wir nehmen sie in dieser Vogelperspektive nicht wahr. Unser Blick orientiert sich am Terrain – am Horizont."

Der Horizont bildet seit jeher eine Konstante in den Arbeiten von Olaf Osten, vor allem in der Werkserie Fernsehen, die nun mit den aktuellen Landkartenbildern fortgesetzt wird, die konsequenterweise dieselben Titel tragen und mit fortlaufenden Nummern versehen sind. Olaf Osten durchbricht die kartografische Ansicht und setzt über die Landkarte eine abstrakte Malerei, die jedoch dann unwillkürlich, im Zusammenspiel zwischen Karten und Farbe, wieder an Landschaftliches erinnert. Das Land wird zur Meeresbucht, Länder verschwinden im Meer, und Landstriche, die nie am Wasser lagen, werden zu steil abfallenden Klippen. Gestisch, opak und dann wieder transparent und nahezu anarchisch ermalt sich Olaf Osten eine neue Welt. Die tatsächliche Landkarte spielt kaum eine Rolle, außer dass sie zum Referenz­rahmen für die Farbwahl des Künstlers wird. "Anders als in den Taschenkalendern geben die Atlanten eine Struktur vor. Daran kann man sich orientieren oder nicht, auf jeden Fall öffnen sie ein breites Spektrum, um das Vorgegebene zu erweitern oder zu übermalen. Ich zeige die Natur ohne die mathematische Verortung der Landkarte."