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Sibylle Hamann

Sag Samarkand. Oder sag St. Pölten.

Reden wir nicht über Kunst. Reden wir über Kalender und über Landkarten. Das sind die zwei Achsen, die uns in der Welt halten. Das Gerüst, an das wir uns klammern, wenn wir in der Nacht schweißgebadet aufwachen, weil wir vergessen hatten, wer wir sind.

Der Kalender hat manchmal sogar ein Bändchen, zum Festhalten. Das können wir zwischen den Dienstag und den Mittwoch legen, um die feine, mathematisch nicht messbare Stelle zu markieren, die die Vergangenheit von der Zukunft trennt.

Die Landkarte wiederum verankert uns auf dem Planeten. Macht uns auffindbar. Macht uns zu Bergmenschen, zu Wüstenbewohnern oder zu Meeresanrainern. Wenn wir Glück haben, gibt sie uns sogar eine Staatsbürgerschaft. Manchmal stecken wir Stecknadeln dorthin, wo wir hingehören.

Wenn mysteriöse Gewaltverbrechen passieren, dann markieren Behördenvertreter die Tatorte mit Stecknadeln und spannen dazwischen Fäden. Zumindest ist das in den Fernsehkrimis so. Die TV-Kommissare geben uns damit ein ganz wichtiges Versprechen: Man muss die Dinge bloß in den richtigen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang zueinander bringen, die Zeit- mit der Raumachse kreuzen, dann kann man jeden Fall lösen. Dann weiß man, was wirklich passiert ist. Und ist erlöst.

Den Job der Stecknadeln erledigen heute die Navis und die GPS-Ortung unserer Smartphones, die lückenlose Zeit- und Raumdiagramme erstellen, ohne dass wir sie je darum gebeten hätten. Wir müssen bloß Siri fragen, um zu erfahren, wer wir sind.

Heute jedoch, da wir im Alltag ohnehin umfassend vermessen und verortet werden, brauchen wir nicht immer noch mehr Information. Wir brauchen Luft auf der Zeit- und Raumachse. Wir brauchen jemanden, der uns ein bisschen Verunsicherung hineinpustet, Auflösung, Sehnsucht.

Genau das machen Olaf Ostens Bilder.

Seine Kalender und Karten verraten mir, dass das, was ist, nicht der einzig mögliche Aggregatzustand ist. Zu einer anderen Zeit war derselbe Ort ein anderer, und wer weiß, wie er übermorgen oder in 350 Jahren ausschaut? Ebenso könnte ich genau jetzt, in dieser Spalte meines Terminkalenders, ganz woanders sein. Sag einfach Nagorni Karabach, sag Sansibar, sag Salt Lake City, sag Samarkand oder sag Sankt Pölten – auch dort wäre ich ich. Und wäre doch gleichzeitig ein bisschen anders.

Ja, so ist das mit der vordergründigen Sicherheit, mit den Terminen und den Stecknadeln: Ein kleiner Zweifel reicht und schon sind sie weg.

Nehmen wir die Linien auf den politischen Landkarten, die Grenzen. Reisende zieht das Wort "Grenze" magisch an. Hinter jeder Grenze könnte es ein Geheimnis geben. Das nagt. Man will hinüberlugen, bloß um einen kurzen Blick zu erhaschen. Die Linie auf der Karte kann Verschiedenes bedeuten. Ist sie eine undurchdringliche Barriere mit Stacheldraht und scharf schießendem Wachpersonal? Gibt es eine mehrspurige Autobahn­verbindung von einer Seite auf die andere? Oder muss man, in der Steppe zwischen zirpenden Zikaden, tagelang auf einen Stempel warten, bis man sie überqueren darf? Hält die Grenze Feinde auf Distanz, die einander sonst an die Gurgel gehen würden? Oder ist sie ein brutaler, trennender Schnitt durch Familien, Nachbarschaften, gemeinsame Geschichte?

Nein, klar ist da gar nichts mehr. Wo die Russen aufhören und die Ukrainer anfangen. Die Afghanen und die Pakistani. Die Deutschen und die Österreicher. Wer sich die Pastellfarben, in denen die Territorien auf den politischen Karten so sauber eingefärbt werden, wohl ausgedacht hat? Wer sie zuordnet, pistaziengrün die einen, pastelllila die anderen, in provokanter, verlogener Eindeutigkeit? Während wir im Radio von ethnischen Säuberungen hören, von Bürgerkriegen, Annexion.

Übermalen, wie Olaf Osten das tut, ist da die einzig angemessene Antwort. Es stellt die Vieldeutigkeit der Dinge wieder her, schließt die Gegenwart mit der Vergangenheit kurz. Beinahe manisch kritzelt er sie voll, die Flächen, die unsere Gewissheiten festhalten sollen, und fügt ihnen einige ihrer jeweils tausend anderen Möglichkeiten hinzu. Er lädt den 19. April mit dem 20. November auf und den 20. November mit dem 21. Januar des kommenden Jahres. Das nordchinesische Meer füllt er mit dem Wasser der Ostsee oder jenem seines Malkastens.

Was ist dir nah, was ist fern? Ist dir das Ferne fremder als das Nahe? Und ist das, was dir am unmöglichsten scheint, wirklich am weitesten entfernt?

Und plötzlich sind wir nicht mehr da, wo wir sein sollten. Wir haben Termine, aber haben sie leider übermalt, deswegen kommen wir zu spät. Wir haben uns im Faltplan verblättert, haben uns davontragen lassen von dem, was gerade an den Ufern des Donaukanals passiert, und finden deswegen nicht mehr hin, wo man uns erwartet.

Aber diese Bilder sagen: Das ist gar nicht so schlimm.

Sibylle Hamann, 2014